Es hat an der PGS schon fast Tradition: Der 09. November bietet bereits zum dritten Mal den Anlass für den 10. Jahrgang des Gymnasiums, sich mit der Tragweite dieses Datums für die deutsche Geschichte und für die Gesellschaft umfassend auseinanderzusetzen. So startete auch in diesem Jahr, kurz vor dem 09. November, die Auftaktveranstaltung zum selbstorganisierten Projekt „Wir und die anderen“, das in diesem Schuljahr unter dem Dach des 30- jährigen Jubiläums des Mauerfalls und der deutsch-deutschen Wiedervereinigung den Titel „Wir und die anderen. Identität zwischen Repression und Widerstand“ trägt.
Wie sah ein Leben für Menschen in der DDR aus, die sich dem politischen System widersetzten, die anders dachten und die kritisch nachfragten? Wie hat sich das Leben im sogenannten „Ostdeutschland“ auf ihre Identität und auf ihr heutiges Leben ausgewirkt?
Diesen und weiteren von den Schüler*innen der Klassen 10 erarbeiteten Fragen stellten sich am 08. November 2019 in der Aula der Paul-Gerhardt-Schule zwei Zeitzeugen, die ganz unterschiedliche Erfahrungen in ihrem Leben während der deutsch-deutschen Teilung gemacht hatten.
So erzählte Jörg Neinaß, der 1953 in der ehemaligen DDR geboren wurde und als junger Mann an der Akademie der Wissenschaften in Berlin arbeitete, wie es für ihn war, als er 1986 einen Ausreiseantrag stellte und daraufhin seine Arbeitsstelle verlor. Auf Grund seiner eigenen Meinung und seiner Kritik am politischen System wurde er, verraten von einem Bekannten, von der Staatssicherheit verhaftet und verbrachte zwei Wochen im Gefängnis Hohenschönhausen: „Staatszersetzende Schriften“ verfasst zu haben, „den Staat zu verunglimpfen“ und „Widerstand gegen seine Festnahme geleistet zu haben“ waren nur einige Delikte, auf Grund derer er in Abwesenheit verurteilt wurde. Die Intervention der katholischen Kirchengemeinde an seinem Wohnort konnte ihn aus dem Gefängnis retten, bis er kurz vor dem Fall der Mauer die Nachricht erhielt, mit seiner Familie innerhalb von 24 Stunden die DDR verlassen zu müssen. Nach der Wende wieder in seine „alte“ Heimat zurück zu kehren, der Gedanke sei ihm nicht gekommen, zu tief würden die Wunden der Vergangenheit sitzen.
Ernst Schulze, der 1939 in der späteren DDR geboren wurde, blieb 1959 in seiner Heimat, obwohl seine Familie vor der Zwangskollektivierung ihres landwirtschaftlichen Betriebes in den Westen floh. Er wollte den geerbten Besitz erhalten. Nachdem er sich jedoch weigerte, sich von seiner Familie zu distanzieren, wurde ihm eine Fortführung seines Studiums für Schwermaschinenbau in Magdeburg untersagt. Er verließ 1960 über Westberlin illegal die DDR und durchlief im Aufnahmelager Marienfelde bzw. Friedland das Aufnahmeverfahren in die BRD. Beim Fall der Mauer war Ernst Schulze Realschullehrer für die Fächer Mathematik und Geografie. Er selbst habe darüber nachgedacht, zurück zu ziehen. Da seine Familie sich die Verlegung des Lebensmittelpunktes jedoch nicht vorstellen konnte, entschied er sich dagegen.
So unterschiedlich die Biographien beider Zeitzeugen jedoch sind, so einig sind sie sich in einem Punkt: Sich gegen Willkür und Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen, Populismus und politischen Extremen keinen Platz zu bieten, sei die Pflicht eines jeden. Die sehr persönlichen Antworten und privaten Einblicke dieser Menschen in eine besondere Zeit der deutschen Geschichte beeindruckte die Schüler*innen und Lehrer*innen sehr. Die Jugendlichen sind nach diesem gelungenen Auftakt motiviert und neugierig, Fragen nach der Identität in historischem oder gegenwärtigem Kontext zu stellen und in einem freien Projekt zu erarbeiten. „Es ist eben etwas anderes, von solchen Erfahrungen nur im Geschichtsbuch zu lesen als von diesem in einem Gespräch zu hören,“ schlussfolgerte eine 10. Klasse in einer abschließenden Runde mit ihrer Lehrerin.
Text: Hanna Holtemeyer