Die Oberschule in Gehrden hat vieles von dem abgeschafft, was zu Schule eigentlich dazu gehört. Die Schulbücher zum Beispiel, aber auch einen Unterricht, der nach Einzelfächern aufgeteilt ist. Ein Stundenplan oder festen Pausen? Fehlanzeige. Stattdessen gibt es projektorientierte „Themen der Woche“; der Unterricht dafür wird gemeinsam von Jahrgangsteams entwickelt. Und das wichtigste: Ein Großteil des Unterrichts findet digital statt. Die Oberschule Gehrden ist laut Schulprogramm „anders“ – und das im besten Sinne des Wortes. Schulleiter Carsten Huge stellte das Konzept mit seinen beiden Kollegen Marc Essenheimer und Christoph Raum vergangene Woche bei der Loccumer Konferenz für Didaktische Leitungen an Oberschulen und Gesamtschulen vor.
Eingeladen dazu hatten PD Dr. Silke Leonhard, Rektorin des Religionspädagogischen Instituts Loccum (RPI), und ihr Stellvertreter Dietmar Peter. Im Zentrum der zweitägigen Konferenz standen diesmal Fragen der Digitalisierung in Schule und Unterricht. „Die didaktischen Leitungen sind diejenigen Lehrkräfte, die dafür verantwortlich sind, dass sich der Unterricht in den einzelnen Fächern weiterentwickelt“, erläutert Silke Leonhard. „Sie sind es auch, die Vorgaben der Kultusminister zum Digitalpakt und zur Bildung in der digitalen Welt im Schulalltag umsetzen müssen.“
Anhand des Modells der Gehrdener Oberschule konnten sich die 90 Teilnehmer*innen ein Bild davon machen, wie eine Schule mit Schwerpunkt auf Digitalisierung aussehen kann. Carsten Huge berichtet: „Wir haben 800 Schüler und Lehrer und alle arbeiten digital. Wir haben die Dienstbesprechungen auf ein Minimum reduziert und benutzen ein elektronisches Klassenbuch. Das alles erleichtert ein Lehrerleben doch sehr. Und man glaubt gar nicht, wie viel Kopierpapier man spart.“
Marc Essenheimer, an der Oberschule Gehrden zuständig für die Koordination der beruflichen Bildung, betont: „Bei uns findet Digitalisierung eben nicht nur im Informatikunterricht statt – sondern in allen Fächern. So chatten wir im Englischunterricht mit einer Klasse in London und analysieren im Sportunterricht Bewegungsabläufe mit dem iPad.“ Koordinator Christoph Raum ergänzt: „Aber die Eltern sollen nicht denken, dass ihre Kinder den ganzen Tag nur aufs Tablet starren. Natürlich bewegen die sich im Sport auch, malen im Kunstunterricht Bilder oder bauen in Chemie einen Versuch auf. Nur haben sie eben alles Wissen, was sie brauchen, direkt dabei. Wenn sie im Schulgarten arbeiten, recherchieren sie schnell online etwas über Würmer – und buddeln sie danach aus.“
Nicht alle Eltern seien sofort überzeugt von dem Konzept, gibt Schulleiter Huge zu. Immer wieder werde er gefragt, ob die Schüler*innen denn überhaupt noch schreiben könnten. Huge dazu: „Ich frage dann die Leute immer zurück: Wie wichtig ist denn heute im Alltag die Handschrift überhaupt noch?“ Und zu Beginn seien auch die Bedenken im eigenen Kollegium groß gewesen. Manche hätten den Overheadprojektor aus dem Klassenraum geklaut und sich ins Auto gestellt – um ihn im Notfall parat zu haben. Und noch immer funktioniere nicht alles reibungslos. Wenn etwa das Internet ausfalle, werde es wirklich schwierig. Deshalb sei ein gutes Netz, das hohe Datenvolumen bewältigen kann, unabdingbar. Und noch eines ist den Gehrdenern wichtig: „Es ist ein Trugschluss zu denken, dass ein iPad den Unterricht automatisch besser macht“, betont Essenheimer. Lehrkräfte müssten vielmehr erst lernen, welche Möglichkeiten die Geräte bieten und welche Unterrichtsmaterialien geeignet sind. Schulleiter Huge betont jedoch: „Kein Kollege wird mit der Herausforderung Digitalisierung alleine gelassen.“ Flexible schulinterne Fortbildungsangebote helfen da weiter. Und auch die Eltern lernen mit, weil die Schule digitale Eltern-Kind-Nachmittage anbietet. Natürlich geht trotzdem mal was schief. Huge erzählt mit Schmunzeln davon, wie zwei Sechstklässler, nachdem sie bei ihm programmieren gelernt hätten, sofort die Chance genutzt hätten, das Konto des Papas leerzuräumen: „Doch spricht das weniger gegen unseren Unterricht als gegen die Sicherheitsstandards des Geldinstituts.“
Auch wenn der Unterricht nicht mehr so aussehe, wie man das von früher kennt, so sei er doch sehr effizient. Huge beschreibt es so: „Erstmal denkt man: Was ist denn hier los? Alle Klassentüren stehen offen, die Schüler*innen hängen vielleicht in der Ecke, die Füße hoch, das Tablet auf dem Bauch – aber Sie können sicher sein, dass die sich mit einem schulischen Thema beschäftigen. Und nebenbei auch noch lernen, selbstständig und eigenverantwortlich zu arbeiten.“
Silke Leonhard, Rektorin des RPI und Leiterin der Konferenz, betont: „Viele Fragen bezüglich der Digitalisierung in der Schule mögen vielleicht noch ungeklärt sein. Gerade deshalb brauchen die Didaktischen Leitungen viel Mut und die Unterstützung des Landes dazu, eigene Visionen zu entwickeln und konkrete weitere Schritte für das Lehren und Lernen mit digitalen Medien zu planen.“ Das Religionspädagogische Institut Loccum biete gern den Raum für den Austausch über dieses zentrale Thema.
Text und Fotos: Dr. Michaela Veit-Engelmann / Öffentlichkeitsarbeit des RPI Loccum