Erstens: Kein Mensch weiß, was Gott denkt.
Wer in diesen Tagen behauptet, die Corona-Pandemie sei eine Strafe Gottes und dazu Verse aus der Bibel zitiert, der muss sich fragen lassen: Woher weißt du das? Aus der Bibel? Und warum gibt es dann Christen, die überzeugt sind, dass die Corona-Pandemie keine Strafe Gottes ist, und dabei ebenfalls Verse aus derselben Bibel zitieren?
Diese Grundaussage zieht sich durch die gesamte Bibel: Gott kennt unsere Gedanken, aber wir kennen nicht Gottes Gedanken. Aus diesem Grund warnt die Bibel bereits auf den ersten Seiten davor, sich ein Bild von Gott zu machen. Mein Gottesbild ist von meinen Gedanken und Erfahrungen geprägt, aber Gott ist größer als meine Erfahrungen.
Zweitens: Unser Leben ist zerbrechlich.
Das war es schon immer. Diese Zerbrechlichkeit gilt für alle Menschen, für die gesamte Gesellschaft, für die gesamte Weltbevölkerung und sogar für das Klima. Wir konnten diese unangenehme Tatsache kurz verdrängen, weil die Kranken und Sterbenden meist aus unserem Familien- und Gesichtskreis verschwunden sind in Krankenhäuser und Pflegeheime und weil eine nahezu perfekte Unterhaltungsindustrie unsere Aufmerksamkeit auf angenehmere Dinge gelenkt hat. Aber die Corona-Krise führt uns unsere Fragilität wieder schmerzlich vor Augen.
Drittens: Die Stärke der Wissenschaft ist, dass sie aus ihren Fehlern lernt und dadurch immer besser wird.
Jede wissenschaftliche Aussage gilt so lange als richtig, bis sie von einer neuen wissenschaftlichen Erkenntnis als falsch erwiesen wird. Auf diese Weise werden wissenschaftliche Vorhersagen Schritt für Schritt „immer weniger falsch“. Während aus Wuhan die ersten Corona-Infizierten gemeldet wurden, haben Wissenschaftler mit erstaunlicher Präzision den weiteren Verlauf dieser Pandemie prognostiziert, so dass Regierungen vorgewarnt waren und Vorkehrungen treffen konnten.
Viertens: Der Mensch ist auf der Suche nach Sinn.
Menschen, die einen Sinn in ihrem Tun oder Leiden erkennen können, sind oft zu großen Opfern bereit. Die Schmerzen bei einer Geburt haben den Sinn, einem neuen Menschen das Leben zu schenken. Umgekehrt gilt: Sinnloses Leiden kann Menschen körperlich und seelisch zerstören. Deshalb suchen Menschen auch im Unglück nach einem Sinn.
Was ist der Sinn dieser Corona-Epidemie? Die Anzahl der Antworten auf diese Frage entspricht der Anzahl der Menschen, die sie stellen. Mit dem Sinn ist es wie mit dem Glauben: Jeder Mensch muss seine eigene Antwort finden. Und niemand hat das Recht, einem anderen Menschen vorzuschreiben, welchen Sinn er darin zu finden hat.
Es kann also durchaus sein, dass ein Mensch die Corona-Epidemie als Strafe für begangene Sünden deutet und Gott deshalb um Vergebung bittet. Das ist seine persönliche Deutung. Das Virus selbst macht keinen Unterschied zwischen guten und bösen Menschen.
Ein anderer Mensch wird möglicherweise aufmerksam für seine eigene Verletzlichkeit und für die lebensrettende medizinische Ausstattung unserer Krankenhäuser und dankt Gott dafür.
Ein Dritter klagt vielleicht wie Hiob Gott an. Für ihn bleibt die Corona-Epidemie ein Leben lang sinnlos, weil ein geliebter Mensch daran gestorben ist.
Die entscheidende Frage am Ende lautet: Was kann ich für mein Leben glauben?
Matthias Hülsmann, Dozent für Theologische Fortbildung und Kirchenpädagogik am RPI Loccum