Interview mit PD Dr. Silke Leonhard, Rektorin des Religionspädagogischen Instituts Loccum (RPI)
„Die Schamgrenzen sinken“, so fasst PD Dr. Silke Leonhard ihre aktuellen Beobachtungen zusammen. Unter Mitarbeit des gesamten RPI-Kollegiums haben Silke Leonhard und die ehemalige Dozentin Kirsten Rabe deshalb eine Arbeitshilfe herausgegeben, die religionspädagogische Ideen und Wege zur Demokratieförderung bietet. Im Interview verrät Silke Leonhard, warum das Thema auch im Religionsunterricht so wichtig ist.
Wo sehen Sie die Demokratie aktuell in Gefahr?
Leonhard: Erstmal muss ich sagen: Ich sehe insgesamt sehr viel Gutes. Die Demokratie steht auf einem festen Boden, gerade auch bei Jugendlichen. Man denke nur an die Fridays-for-Future-Bewegung oder die Beteiligung junger Menschen bei demokratischen Prozessen. Doch dann sehe ich trotzdem: Es wackelt. Und es wackelt besonders da, wo es nicht gelingt, damit zu leben, dass Menschen unterschiedlich sind. Das führt dann im Extremfall zu Fremdenhass und Fremdenhetze. Hanau, Halle und Würzburg sind dabei zu symbolischen Orten geworden, die sichtbar sind. Aber genauso schlimm ist doch das, was auf der Ebene dahinter ist und was vielleicht nicht sofort sichtbar ist. Zum Beispiel im digitalen Raum. Und da fällt auf: Die Schamgrenzen sinken. Sich anderen gegenüber diffamierend zu äußern, fällt plötzlich ganz leicht. Es ist, so schlimm das ist, öfter ganz normal geworden. Doch diesem Hass zu widersprechen, wozu Carolin Emcke aufruft, braucht Mut. Mit unserer Arbeitshilfe wollen wir diesen Mut stärken und religionspädagogisch Mut machen.
Sie teilen in Ihrer Arbeitshilfe die „gegenwärtigen demokratiefeindlichen Erscheinungen“ in „vor und während Corona“ ein. Was hat sich seit Corona verändert?
Leonhard: Ich finde, das Feld ist unübersichtlicher geworden. Noch mehr als vorher findet Kommunikation digital statt. Menschen äußern da ihre Unzufriedenheit in der Pandemie und finden in Querdenkern und Verschwörungsgläubigen plötzlich Verbündete. Dieses Leugnen von Krisenphänomenen führt dazu, dass das Vertrauen in die Politik und die Demokratie verloren geht. Und was es noch schlimmer macht: Das alles geschieht unter dem vermeintlichen Siegel des Freidenkens.
Sie sprechen in Ihrem Buch von „demokratiebewusstem religiösen Lernen“ – haben Sie ein Beispiel, wie so etwas aussehen kann?
Leonhard: Oh, da haben wir ganz viele Beispiele. Denn in unserer Arbeitshilfe bildet sich die gesamte Bandbreite der Zielgruppen unseres Kollegiums ab, mit allen Interessen und Arbeitsschwerpunkten. Demokratiebewusstes religiöses Lernen fängt früh an. Schon mit Kindergartenkindern kann man Vorurteilssensibilität und Diversitätsbewusstsein üben und mit ihnen überlegen, wie ein Leben in Vielfalt aussieht. Ein Beitrag widmet sich genau dieser Frage und zeigt anhand von Bilderbüchern, wie bunt das Leben ist und wie wichtig es ist, solche Buntheit anzuerkennen. „Sorum sein ist voll okay. Anders sein tut auch nicht weh!“ – ein schöner und sprechender Titel. Wir haben aber auch Beiträge für die Oberstufe dabei, wo es zum Beispiel darum geht, zwischen Glauben, Meinen und Wissen unterscheiden zu lernen und nach Wahrheiten zu fragen. Das ist dann schon Philosophie. Ach, da könnte ich noch so viel aufzählen! Wir haben grundlegende Beiträge zum Verstehen von religiösen Zusammenhängen, das Ansetzen an Problemen und noch viel mehr. Immer geht es darum, wie junge Menschen sensibel wahrnehmen, eine eigene Haltung erlernen, wie sie lernen, in Resonanz zu sein mit der Gesellschaft und mit denen, die anders sind als sie. Dazu kann und muss religiöse Bildung beitragen.
Und was verstehen Sie unter „diversitätssensibler Religionsdidaktik“?
Leonhard: Ich verstehe darunter die Aufgabe, die Aufmerksamkeit in Bezug auf Wertigkeit, die Haltung zu und Reflexion von Religion, Geschlecht und Kultur zu schärfen. Die Frage ist ja: Wie können wir als religionspädagogische Profis junge Menschen sensibel und sprachfähig machen, diese Haltung zu kommunizieren? Es geht darum, Menschen so stark zu machen, dass sie mit anderen Menschen als ihren Mitgeschöpfen genau in der beschriebenen Haltung umgehen können. Das alles versucht die diversitätssensible Religionsdidaktik umzusetzen.
Die Fragen stellte Dr. Michaela Veit-Engelmann, am RPI Loccum zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit.