Die Frankfurter Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen plädiert dafür, die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Jugendliche stärker in den Blick zu nehmen. Bei einer Tagung des Religionspädagogischen Instituts Loccum (RPI) für Didaktische Leitungen an Oberschulen und Gesamtschulen präsentierte die an der Goethe-Universität Frankfurt am Main lehrende Professorin die Ergebnisse einer Umfrage unter Jugendlichen. Ihre Erkenntnis: „Die Jugendlichen haben Sorge, ihr Leben zu verpassen!“
Im Zeitraum von März 2020 bis Dezember 2021 befragte ein Forschungsverbund der Universitäten Frankfurt und Hildesheim online Jugendliche zu ihren Erfahrungen in der Pandemie. „Wir wollten wissen, was es für junge Menschen bedeutet, wenn Normalität und Infrastruktur wegbrechen“, erklärte Andresen. Bei jeder der drei Befragungen nahmen 5000 bis 7000 Jugendliche teil, darunter Schüler:innen, Studierende, Auszubildende, Erwerbstätige und Menschen im Freiwilligendienst.
Bereits bei der ersten Studie zum Thema Jugend und Corona (JuCo I) im März 2020 hätten sich zwei Muster abgezeichnet, so Andresen: Einerseits schätzten Jugendliche den stärkeren Zusammenhalt und die wechselseitige Fürsorge, andererseits seien sie durch die Ausnahmesituation psychisch stark belastet. Die Folgestudien JuCo II im Winter 2020 und JuCo III im Winter 2021 hätten deutlich gemacht, dass sich das Krisenerleben und die emotionale Ermüdung noch verstärkt hätten. Die Studie habe zudem gezeigt, dass jene Jugendlichen besonders belastet seien, die ihren Hobbies nicht nachgehen konnten, die Geldsorgen hätten und denen ganz real „Orte zum Abhängen“ gefehlt hätten. So habe eine Teilnehmerin der Onlineumfrage geschrieben: „Diese Jahre hätten die schönsten und lustigsten werden können, doch stattdessen saß ich aus Solidarität zu Hause fest.“
Mit ihren Ausführungen sprach Andresen den fast 80 Zuhörenden aus dem Herzen, konnten die Ergebnisse der Studie doch unterlegen, was die Lehrkräfte ebenfalls empfinden. Eine Teilnehmerin bemerkte: „Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir Schule einfach neu denken müssen! Auch die Verteilung von Notebooks ändert nichts an der fehlenden Chancengleichheit.“ Es sei für die Lehrkräfte unmöglich, angesichts großer Klassen und dem Druck durch die Lehrpläne auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler:innen eingehen. Und das gelte nicht nur unter Corona, sondern grundsätzlich.
Andresen schlug die Brücke auch in andere aktuelle Krisensituationen hinein und nahm den Ukrainekrieg und den Klimawandel mit in den Blick: Die Jugendlichen hätten erkannt, dass ihre Zukunft politisch nicht zähle: „Die Kinder und Jugendlichen sagen, wir werden nicht ernst genommen. Dabei kostet das eigentlich gar kein Geld.“ Deshalb forderte sie: „Wir brauchen eine neue Philosophie von Kindheit und Jugend; wir dürfen diese jungen Menschen nicht darauf reduzieren, dass sie Teil der Familie und des Systems Schule sind. Die Pandemie hat gezeigt: Kindheit kann gefährdet sein, wenn alles primär in den Familien stattfindet. Es braucht eine verlässliche Infrastruktur und das Wächteramt des Staates.“ Und man könne aus der Pandemie lernen, dass man neu über das Recht auf Bildung nachdenken müsse: „Bildungsbiografien sind so zu gestalten, dass die Möglichkeit einer Erschütterung durch Krisen stets mitzudenken ist.“
Dies unterstrich auch PD Dr. Silke Leonhard, als Rektorin des RPI verantwortlich für die Tagung: „Wir dürfen Kinder und Jugendliche nicht als Coronageneration stigmatisieren, sondern wir müssen überlegen, wie wir sie erreichen und wo wir sie fördern können.“
Text: Dr. Michaela Veit-Engelmann, Öffentlichkeitsarbeit des RPI Loccum