Sandra Ciesek ist Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt am Main. Einem breiten Publikum bekannt geworden ist sie durch den Corona-Podcast, in dem sie gemeinsam mit ihrem Berliner Kollegen Christian Drosten zu hören war. Nun hat sie die Schirmherrschaft für #Mensch, den Landeswettbewerb Evangelische Religion der evangelischen Kirchen in Niedersachsen, übernommen. Im Interview erzählt sie, warum ihr das ein Herzensanliegen ist und was sie Kindern und Jugendlichen gerne mit auf den Weg geben möchte.
#Mensch lautet das Thema des nächsten Landeswettbewerbes Evangelische Religion. Viel umfassender kann es wohl kaum sein. Was hat Sie bewogen, die Schirmherrschaft zu übernehmen?
Prof. Dr. Sandra Ciesek: Ich finde, dass das einfach ein ganz wichtiger Wettbewerb ist. In den letzten zwei Jahren habe ich festgestellt: Wenn man viel Kontakt mit Medien und Wissenschaftskommunikation hat, schlägt einem auch viel Gegenwind entgegen. Und zwar in dem Sinne, dass es viel aufzuklären gibt: Gerüchte, Fehlinformationen. Ich glaube einfach, man muss bei den Schülerinnen und Schülern – also in der frühen Generation – damit anfangen und sie begeistern und mitnehmen. Deshalb engagiere ich mich besonders gern für Kinder und Jugendliche. Ich führe zum Beispiel auch die Kinderuni hier in Frankfurt im Herbst mit durch. Dies ist die zukünftige Generation und deshalb unterstütze ich diesen Landeswettbewerb gerne. Ich finde auch das Thema wahnsinnig spannend, gerade weil es so vielseitig ist, und ich bin gespannt, welche Themen oder Assoziationen entstehen und was die Schülerinnen und Schüler dann einbringen.
Wir Menschen haben in den vergangenen Monaten gemerkt, dass wir angreifbarer denn je sind. Ein Virus hat unzählige Gewissheiten ins Wanken gebracht. Wie haben Sie diese Zeit wahrgenommen?
Prof. Dr. Sandra Ciesek: Zum einen ist das natürlich für Virologen und Virologinnen eine sehr spannende Zeit. Plötzlich steht das eigene Fachgebiet im Mittelpunkt. Die Pandemie spielt für alle eine so große Rolle, weshalb man dann überlegt: Was kann ich dazu beitragen sowohl in der Wissenschaft, also im Bereich der Grundlagenforschung, als auch im gesellschaftlichen Bereich? Gerade hier kann man an der Aufklärung arbeiten. In guter Erinnerung werde ich behalten, dass ich viele Menschen kennengelernt habe, zu denen ich sonst nie Kontakt gehabt hätte. Andere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus anderen Fachgebieten haben ihre Arbeitskraft auf den SARS-Erreger fokussiert und haben uns ihre Erkenntnisse zur Verfügung gestellt. Dadurch kamen ganz viele tolle Kooperationen zustande, zum Beispiel zu Physikern und Physikerinnen. Dies empfinde ich als absolut positiv und einmalig. An diese Dinge werde ich mich sicherlich noch als Großmutter später erinnern. Trotzdem hat es natürlich auch Schattenseiten.
Und es sind gerade unsere Schattenseiten, die die Erkrankung nach vorne bringt: Gerade die soziale Ungerechtigkeit wird durch die Pandemie verstärkt. Manche sprechen sogar von einer Spaltung der Gesellschaft, das kann ich noch nicht so genau sagen. Aber es gibt extreme Meinungen und viele Fehlinformationen und es ist schwer, dagegen anzukommen – was zu weiteren Problemen führt. Wenn man sich die Länder ansieht, die am besten durch die Pandemie kommen, sind es die, wo Vertrauen in Politik, Medien und Wissenschaft herrscht. Bei uns scheint das bei vielen Menschen anders zu sein, das ist ein Problem. Ich finde es sehr schade, dass gerade das Vertrauen in die Wissenschaft abnimmt. Mein Ziel ist es, das wieder zu stärken. Das ist, wie gesagt, auch ein Grund, warum ich die Schirmherrschaft angenommen habe.
Welche Rolle sollen Kirchen Ihrer Meinung nach hier einnehmen?
Prof. Dr. Sandra Ciesek: Kirchen können wie der Fels in der Brandung sein, wenn Leute Angst haben oder unsicher sind. Es fällt in der Pandemie auf, dass sich die Menschen wieder auf alte Werte stützen, was leider auch nicht immer positiv ist, wie zum Beispiel im Bereich der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, wo es Rückschritte gab. Es gehen wieder mehr Menschen in die Kirche und suchen den Glauben. Gerade in Zeiten der Unsicherheit könnte die Kirche zum Beispiel helfen, zwischen uns Wissenschaftlern und den anderen Menschen Brücken zu bauen: etwa Veranstaltungen organisieren, die zur Aufklärung beitragen. Kirchen können, gerade wenn es um soziale Gerechtigkeit geht, viel mithelfen, vielleicht indem sie alleinerziehenden Müttern helfen oder Menschen, die ihre Arbeit verloren haben.
Herbert Grönemeyer singt: „Und der Mensch heißt Mensch, weil er schwärmt und glaubt, sich anlehnt und vertraut.“ Wem vertrauen, wem glauben Sie?
Prof. Dr. Sandra Ciesek: Ich vertraue erstmal allen Menschen, die mir begegnen und die in meinem Umfeld sind, und hoffe immer, nicht enttäuscht zu werden. Grundsätzlich vertraue ich erstmal, dass jemand, dem ich begegne oder den ich treffe, gute Absichten hat und einen nicht hintergeht.
Was ist Ihnen für Kinder und Jugendliche besonders wichtig?
Prof. Dr. Sandra Ciesek: Kinder und Jugendliche aufzuklären, damit sie Fehlinformationen erkennen können, sie dadurch also ein Werkzeug erhalten. Gerade bei Kindern und Jugendlichen muss man ansetzen, damit diese Spaltung, oder wie auch immer man sie nennen will, nicht weiter fortschreitet. Mir ist es wichtig, durch Aufklärung und vor allem durch Bildung das Vertrauen in die Wissenschaft weiter zu vergrößern.
Wie sehen Sie die Menschen heute im Vergleich zu vor der Pandemie?
Prof. Dr. Sandra Ciesek: Früher war ich in meiner Blase, meinem Umfeld und habe mich nicht so stark mit anderen gesellschaftlichen Bereichen beschäftigt. Doch durch die Wissenschaftskommunikation in der Öffentlichkeit erhalte ich auch negatives Feedback, Beschimpfungen und Ähnliches, zum Beispiel über die sozialen Medien. Man erkennt, dass es Menschen gibt, die andere Wertvorstellungen haben, die ich so vorher nicht kannte. Meine Sichtweise auf die Menschen hat sich nicht generell verändert, aber erweitert.
Sind wir kränker oder gesünder geworden?
Prof. Dr. Sandra Ciesek: Rein körperlich und geistig, würde ich vermuten: eher kränker. Um wissenschaftlich zu antworten, muss man wirklich gute Studien haben, die das untersuchen; aber erste Daten zeigen, dass bestimmte Krankheiten zunehmen oder zugenommen haben. Durch den veränderten Lebenswandel bewegt man sich weniger, es sind mehr Menschen übergewichtig. Die Diabetes-Fälle steigen zum Beispiel an, aber auch psychische Erkrankungen nehmen zu. Die Pandemie ist für die Gesamtgesundheit sowohl geistig als auch körperlich eher negativ. Eine Pandemie löst generell Ängste aus, dass man selbst erkrankt oder sogar Angehörige sterben. Das ist natürlich immer Stress und daher negativ für uns und hat erstmal nichts mit den Maßnahmen zu tun.
Was geben Sie uns für die Zukunft mit? Wie können oder sollen wir leben?
Prof. Dr. Sandra Ciesek: Das ist aus virologischer Sicht einfach. Was wir sehen, ist, dass es Pandemien regelmäßig gibt; und man hat ausgerechnet, dass es ungefähr alle 30 Jahre plus-minus fünf Jahre zu einer Pandemie kommt. Wir sehen in den letzten Jahren, dass Pandemien in immer schnellerer Abfolge erscheinen. Das wird wahrscheinlich auch so weitergehen, was vor allem an unserem Lebenswandel liegt. Wir sind also mitschuldig. Die Globalisierung und das ständige Anwachsen der Weltbevölkerung führen dazu, dass wir enger zusammenwohnen und den Lebensraum der Tiere zerstören. Dadurch haben wir engeren Kontakt zu Wildtieren, die auch Viruserkrankungen haben, die dann irgendwann auf den Menschen überspringen. Durch die Zerstörung der Lebensräume, die Massentierhaltung und die Globalisierung geht das natürlich noch viel schneller einmal um den Erdball. Auch der Klimawandel hängt eng damit zusammen, wenn man von einem One-Health-Gedanken ausgeht. Wir müssen dies verstehen und unser Verhalten danach anpassen, wenn wir weitere Pandemien nicht häufiger erleben wollen oder unsere Kinder. Wir müssen aufpassen, dass wir die Erde nicht zerstören, auf der wir leben. So platt das klingen mag.
Herzlichen Dank, Frau Prof. Dr. Ciesek, für dieses Gespräch.
Die Fragen stellte Linda Frey, als RPI-Dozentin zuständig für den Landeswettbewerb Evangelische Religion.