Seit Mai 2021 läuft in Niedersachsen ein breit angelegter Konsultationsprozess zur Einführung des CRU. Der evangelische Religionspädagoge Prof. Dr. Henrik Simojoki von der Humboldt-Universität zu Berlin und sein katholischer Kollege Prof. Dr. Konstantin Lindner, Professor für Religionspädagogik an der Universität Bamberg, haben diesen Prozess als externe Beobachter begleitet. Im Interview erzählen sie, was ihnen dabei besonders aufgefallen ist, warum ein bisschen Druck von außen manchmal gut ist – und wieso es wichtig sein kann, Kritik von beiden Seiten zu bekommen.
Mit leichter Verzögerung, die auch Corona geschuldet war, haben die leitenden Geistlichen der evangelischen Landeskirchen und katholischen Bistümer sich für die Einführung des gemeinsam verantworteten Christlichen Religionsunterrichts ausgesprochen. War daran noch irgendwas überraschend für Sie?
Simojoki: Für mich überraschend war in jedem Fall, wie entschieden das Plädoyer auf beiden Seiten war. Auch der zuständige Minister hat sich eindeutig dafür ausgesprochen, diesen Weg politisch zu unterstützen. Gleichzeitig gilt: Ein Konsultationsprozess wie dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass viele Stimmen zur Sprache kommen und deswegen haben wir es auch mit einem breiten Spektrum an Meinungen zu tun gehabt.
Lindner: Für mich hätte es alle Möglichkeiten gegeben, wie das Votum ausgehen könnte. Ich weiß, dass es kritische Stimmen zum CRU gab und gibt. Aber der Konsultationsprozess hat gezeigt, dass von den Beteiligten sehr gut gearbeitet wurde. Ich denke, dass deshalb auch das Votum der Bischöfe so eindeutig ausgefallen ist. Dafür haben die Kirchenleitenden sich bei verschiedenen Gremien rückversichert und in diesem Zusammenhang auch viele kritische Stimmen gehört. Umso schöner ist es, dass jetzt dieses Ergebnis vorliegt.
Sie haben gerade schon die kritischen Stimmen angesprochen. Denn in der Tat: Die Beteiligung am Beratungsprozess war groß. Und doch bestand von Anfang an bei vielen der Eindruck, das Ergebnis stehe schon längst fest. Was ist da schiefgelaufen?
Simojoki: Die Schulreferent*innen haben bei der Veröffentlichung des Positionspapiers die Entscheidung getroffen, das nicht zuvor mit den Beteiligten zu kommunizieren. Dabei ist der religionspädagogische Kontext in Niedersachsen sonst durch eine sehr breite Mitwirkung gekennzeichnet. Vielleicht wurde es deshalb als unstimmig empfunden, dass dieser Vorstoß nicht breiter abgestimmt war. Das verstärkt den Eindruck, dass die Entscheidung von vornherein vorbestimmt war.
Der Ärger, nicht gefragt worden zu sein, ist verständlich. Aber was mir wichtig ist: Der Prozess zeigt, dass es kein fertiges Ergebnis gab, das durchgepuscht werden sollte. Sondern die partizipatorische Struktur hat sich bemerkbar gemacht – und hat tatsächlich in der Zeit seit Mai 2021 das Profil des geplanten CRU verändert. Ein Beispiel, an dem das besonders deutlich wird, ist die Auseinandersetzung mit christlichen Minoritätskonfessionen wie den Freikirchen und der Orthodoxie. Schon früh ist zurückgespiegelt worden, dass die fehlen – und inzwischen ist der deutliche Wille erkennbar, auch diese Perspektiven einzubringen. Einer der großen Gewinne des Konsultationsprozesses besteht für mich darin, dass da eine Dynamik erzeugt wurde, die es möglich macht, an der Qualität des Religionsunterrichts insgesamt zu arbeiten.
Lindner: Im Grunde gibt es zwei verschiedene Herangehensweisen: Entweder konsultiert man erst und macht dann ein Positionspapier oder man macht erst ein Positionspapier und konsultiert dann. Die Kritiker*innen hätten sich Ersteres gewünscht. Wenn ich es gewohnt bin, vorher gefragt zu werden – dann frage ich mich jetzt natürlich: Warum bin ich denn vorher nicht gefragt worden? Das muss man ernst nehmen.
Aber ich möchte zu Ihrer Frage noch anmerken: Kritik wird immer leichter gehört, weil man reagieren muss. Und Kritik wird auch immer schneller geäußert. Wenn Sie sagen, da ist was schiefgelaufen, dann erzeugt das eine Narration. Aber wir haben auch viele Stimmen wahrgenommen, die sagen: Der CRU stand an. Wir sind seit Jahren im Prozess der konfessionellen Kooperation.
Wobei man ja unterscheiden muss zwischen der Kritik am Prozess und einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Vorhaben eines gemeinsam verantworteten Christlichen Religionsunterrichts an sich.
Simojoki: Sach- und Beziehungsebene sind nicht leicht zu trennen und das ist hier auch so. Jemand, der jahrzehntelang in diesem Feld arbeitet und dann nicht berücksichtigt wird, geht verständlicherweise auf Distanz zu dem Prozess und damit zum CRU insgesamt. Aber erstens: Der Prozess hat das Vorhaben des CRU verändert und diese inhaltlichen Veränderungen konnten im Prozess ausgewiesen werden. Zweitens: Es gibt eine große Anzahl von Protokollen und Stellungnahmen, die im Laufe des Prozesses über eine Homepage öffentlich gemacht wurden. Schon das zeugt von Transparenz.
Schließlich muss man sich klarmachen: Einen solchen breit angelegten Diskussionsprozess zum Religionsunterricht wie in Niedersachsen hat es in der Geschichte der Religionspädagogik noch nicht oft gegeben, vergleichbar wäre höchstens Hamburg. Damit ist ein Signal gesetzt: Zukünftig kann es solche Veränderungen ohne Abstimmung mit den Beteiligten, auch denen aus der Unterrichtspraxis, nicht mehr geben.
Ein großer Kritikpunkt war und ist, dass durch den CRU im Klassenraum eine Ökumene abgebildet wird, die es außerhalb so nicht gibt. Was sagen Sie dazu?
Simojoki: Es ist sehr wichtig, an diesem Punkt eine grundlegende Unterscheidung zu treffen. Nämlich die zwischen einer zwischenkirchlichen Ökumene, bei der es um die Abbildung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden auf der Ebene der kirchlichen Lehrmeinung geht, und der didaktischen Ebene des Religionsunterrichts. Das heißt: Es gibt ökumenische Differenzen, in erster Linie ja bezüglich Amt und Kirche, die dazu führen, dass evangelische und katholische Christ*innen beispielsweise noch nicht gemeinsam Abendmahl feiern können. Das heißt aber nicht, dass die beiden Kirchen nicht dennoch gleichzeitig gemeinsam religiöse Bildung verantworten können. Es ist ein Kurzschluss zu sagen: Weil wir hier noch nicht so weit sind, ist das andere auch nicht möglich. So funktioniert das nicht. Denn sonst bekommen wir die komische Situation, dass dogmatische Differenzen eins zu eins in die Klassenraumsituation hineinprojiziert werden. Die didaktische Ökumene hat aber ihre eigene Dignität! Vor allem gibt es in Niedersachsen schon eine ökumenische Kultur im Kontext Schule. Auf allen Ebenen wurde bereits die Erfahrung gemacht, dass evangelische und katholische Beteiligte ihre Bildungsverantwortung gemeinsam tragen.
Lindner: Ich erkenne hinter dieser Kritik die Angst, dass der CRU die verschiedenen Konfessionen vermischt und damit das preisgibt, das, wie wir es katholischerseits nennen, den Reichtum des Christentums ausmacht. Aber die Kirchen wollen CRU und keine Großkonfession. Das zeigt sich schon im Begriff. Das Ganze heißt nicht einfach CRU, sondern es gibt zwei wichtige Wörter, die davorstehen, nämlich „gemeinsam verantwortet“. Das bedeutet: Hier gibt es mehrere, mindestens zwei, Konfessionen, die für diesen Unterricht gemeinsam verantwortlich sind. Und das wird auch in der Praxis so sein! Die Kirchen müssen sich über gemeinsame Inhalte verständigen – und es müssen mehr gemeinsame als trennende Inhalte sein, das hat das Verfassungsgutachten klar gesagt. Aber auch die trennenden Inhalte müssen vorkommen und darauf muss eine gemeinsame Kommission achten. Gelebte Ökumene heißt dann: Nicht alles vermischen und auch nicht bei den Differenzen stehen bleiben, sondern einen Modus finden, wie die verschiedenen Konfessionen für heutige Schüler*innen bildungsbedeutsam zugänglich gemacht werden können! Und dafür brauchen wir gute Fortbildungen und eine gute Ausbildung!
Simojoki: Ich erkenne in dieser Kritik zwei große Fragen, nämlich die nach Transparenz und nach Repräsentation. Im Grunde gilt es jetzt die Hausaufgaben machen, die schon damals hätten erledigt werden sollen, als der Konfessionell-kooperative Religionsunterricht eingeführt wurde: Wie gehe ich als Lehrkraft eigentlich didaktisch mit den Perspektiven der anderen Konfession um – ohne dass ich etwas vertreten muss, was ich persönlich eigentlich nicht vertrete?
Andere Kritiker*innen sagen das genaue Gegenteil. Sie behaupten: Diese Theorie bildet noch längst nicht ab, was in der Praxis doch schon lange gang und gäbe ist, nämlich ein interreligiöser Religionsunterricht im Klassenverband. Warum reden wir überhaupt noch über einen christlichen Unterricht?
Lindner: Ich finde es spannend, dass in der Praxis längst schon andere Formate da sind, die in der Erfahrungsdidaktik offensichtlich auch geklärt sind. Aber man muss in diesem Zusammenhang nochmal auf den rechtlichen Rahmen hinweisen, in dem Religionsunterricht fast überall stattfindet, nämlich als konfessionell gebundener, für den die Kirchen in einem neutralen Staat die inhaltliche Verantwortung übernehmen. Hinzu kommt: Auch im CRU wird ja die interreligiöse Bildungsdimension nicht ausgeblendet; das ist im Verlauf des Prozesses deutlicher geworden als es noch im Positionspapier war. Gleichzeitig ist der islamische Religionsunterricht gerade dabei, sich in Niedersachsen ganz neu aufzustellen. Und da muss man aufpassen, dass man Religionen, die sich gerade religionspädagogisch etablieren, nicht ihr eigenes Unterrichtsfach strittig macht.
Simojoki: Mir ist wichtig, dass der CRU einer interreligiösen Profilierung nicht entgegensteht; beide Konfessionen betonen ja die Bedeutung des interreligiösen Lernens. Klar: Jede Schulleitung freut sich über Religionsunterricht im Klassenverband. Aber einen solchen Unterricht wird es nur als Religionskunde geben, aus verfassungsrechtlichen Gründen und aus Gründen der Religionsfreiheit. Die Kirchen in Niedersachsen haben sich mit dem CRU bewusst für einen konfessionellen Religionsunterricht entschieden, denn die Auseinandersetzung mit Religion braucht immer die Innenperspektive. Dann aber muss es für die Schüler*innen die Möglichkeit geben, ein Alternativfach zu wählen, sonst ist die Gefahr der Grenzüberschreitung zu groß.
Grundsätzlich finde ich es kein schlechtes Zeichen, dass es kritische Stimmen von beiden Seiten gibt. Denn das zeigt: Man ist in der Mitte.
Die Kirchen erhoffen sich vom CRU eine Stabilisierung des konfessionellen Religionsunterrichts. Kann der CRU das leisten?
Simojoki: Ja, ohne Zweifel. Denn nun kann der Religionsunterricht in größeren Lerngruppen stattfinden. Das mag für Niedersachsen keine Revolution sein, denn vielfach gibt es schon den Konfessionell-kooperativen Religionsunterricht. In den Klassenzimmern wird sich teilweise gar nicht so viel ändern. Dennoch stabilisiert der CRU den Rahmen für zukunftsfähige Bildung von Schüler*innen. Er zeigt zudem: Beide Kirchen stellen sich ihrer gemeinsamen Bildungsverantwortung im öffentlichen Raum. Einer der Vorwürfe gegen den bisherigen konfessionellen Religionsunterricht lautet ja, dass er der Vielfalt religiöser Bildung nicht Rechnung tragen würde. Hier ist der CRU bereits in sich inklusiver angelegt, denn er denkt Bildung von einem Gemeinsamen her, das den Unterschieden gerecht wird.
Lindner: Schule und Unterricht sind permanent im Wandel. Mit der Einführung des CRU finden die Kirchen eine Antwort auf die aktuellen Herausforderungen wie zum Beispiel Pluralität, Digitalität oder die Frage, welchen Beitrag Religionsunterricht zur Allgemeinbildung leistet. Vielleicht müssen wir diese Frage in 15 bis 20 Jahren nochmal stellen und kommen dann zu einer anderen Antwort.
Die weiteren Schritte bis zur Einführung des CRU sind in einer sogenannten Roadmap festgehalten. Da steht, dass vor der Einführung des CRU Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien fertig sein sollen. Als Starttermin wird das Schuljahr 2025/2026 genannt. Ist der jetzige Zeitplan realistisch?
Simojoki: Das ist realistisch, allerdings kann man sich dann nicht ausruhen. Der Zeitplan ist straff, aber solche Zeitpläne sind immer straff. Verständigungsprozesse brauchen einen gewissen Druck. Was die Kerncurricula angeht, fängt Niedersachsen nicht bei Null an. Auch gibt es in allen drei Phasen der Religionslehrer*innenbildung Vorerfahrungen, auf die man aufsatteln kann. Ja, die Zielmarke ist anspruchsvoll, aber möglich.
Lindner: Der CRU wird nicht von heute auf morgen in allen Schulen und Schulstufen eingeführt, sondern kommt sukzessive. Es gibt also in Bezug auf manche Schulformen noch Entspannungspotenzial, das ist eine Chance. Aber ja, es wird sportlich, zumal ja auch die Universitäten einen gewissen Vorlauf brauchen.
Die Kirchen haben sich bereits verfassungsrechtlich abgesichert und möchten nun umgehend mit dem Land in Verhandlungen treten. Welche neuen Fragen könnten dabei noch auftauchen?
Simojoki: Im Koalitionsvertrag steht, dass die Parteien den Weg der Kirchen unterstützen, dass sie aber auch nach Formen der Weiterentwicklung suchen, die auch Werte und Normen in den Blick nimmt. Die Frage dahinter ist, wie das immer noch partikulare Angebot eines CRU zur religiösen Allgemeinbildung aller Schüler*innen beitragen kann. Das passt zu dem Gedanken einer Fächergruppe, wie er sich auch in den EKD-Denkschriften findet.
Lindner: Ein Kultusministerium will sicherlich erstmal ein paar ganz formale Dinge wissen. Wie funktioniert die Lehrkräftebildung? Vocatio und Missio Canonica – wie läuft die Abstimmung? Wer sind kirchlicherseits die Ansprechpartner*innen und welches Gremium haben wir zu nutzen? Welche Übergangsphasenregelungen schaffen wir? Und überhaupt das Allererste, was Ämter wollen, ist eine Rechtssicherheit.
Beim CRU und bei dem damit einhergehenden Konsultationsprozess handelt es sich um einen niedersächsischen Sonderweg. Was können die anderen Bundesländer von uns lernen?
Simojoki: Was sich für mich gezeigt hat: Eine solche gemeinsame Fachentwicklung setzt einen längeren Weg der Vertrauensbildung voraus. Der CRU ist in Niedersachsen möglich, weil Menschen hier schon über Jahrzehnte hinweg organisch zusammengearbeitet haben und der gemeinsame Religionsunterricht bereits eine lange Tradition hat. Das habe ich gelernt und das finde ich besonders schön.
Lindner: Wenn der niedersächsische Weg des CRU gelingt, dann haben andere einen elementaren Vorteil: ein Modell, an dem man sich abarbeiten kann und an dem man sieht, was notwendig ist. Das hat in Niedersachsen viele Ressourcen gebraucht, darauf können andere Bundesländer zugreifen. Wir haben gemerkt, welch großes Interesse es deutschlandweit an diesem Prozess gab und gibt. Und es ist deutlich geworden: Die Weiterentwicklung eines Unterrichtsfaches ist ein durchaus anstrengendes Verfahren. Das braucht Zeit und Menschen, die dafür begeistert sind – und die gibt es in Niedersachsen.
Die Fragen stellte Michaela Veit-Engelmann, am Religionspädagogischen Institut Loccum zuständig für Öffentlichkeitsarbeit.