In Niedersachsen soll der gemeinsam verantwortete Christliche Religionsunterricht eingeführt werden, zugleich lernen immer mehr Schüler*innen in multireligiösen Klassen. Wie passt beides zusammen? Ein Gespräch mit Matthias Hülsmann, Dozent für Theologische Fortbildung am Religionspädagogischen Institut Loccum, über den CRU und seine Chancen für das interreligiöse Lernen sowie über die rechtliche Basis des gegenwärtigen Religionsunterrichts.
Die beiden großen Kirchen in Niedersachsen wollen den gemeinsam verantworteten Christlichen Religionsunterricht (CRU) einführen. Was bedeutet das für das interreligiöse Lernen?
Das ist eine Sensation! Nach 30 Jahren Krieg zwischen katholischen und evangeli-schen Christenmenschen im 17. Jahrhundert und nach über fünfhundert Jahren Streit zwischen den beiden Konfessionen ist das ein gewaltiger Schritt, über den ich nur staunen kann. Ganz ehrlich: Ich war anfangs gegen den CRU. Denn ich dachte: Boah, was ist das für ein riesiger bürokratischer Akt! Viele, viele Menschen werden viele, viele Stunden ihres Lebens damit zubringen, in Schulen, Behörden, Ausschüs-sen und Arbeitsgruppen die Scherben der Vergangenheit zusammenzukehren und den theologischen Graben zuzuschütten, der fünfhundert Jahre zwischen evangelischer und katholischer Kirche geklafft hat. Bis heute gibt es kein gemeinsames Abendmahl.
Aber inzwischen habe ich meine Meinung geändert. Ich denke jetzt, dass hier kirchengeschichtlich etwas ganz Außergewöhnliches passiert: Plötzlich legen in den niedersächsischen Kirchen die Menschen, die für die Schulen und den Religionsunterricht verantwortlich sind, den Schalter um und sagen: Ab heute gehen wir zusammen. Das finde ich wunderbar! Endlich wächst zusammen, was zusammengehört. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass von diesem gemeinsamen CRU ein ökumenischer Impuls ausgeht, der bis in die Kirchengemeinden und Kirchenleitungen hineinwirkt. Das hoffe ich sehr.
Und nachdem ich das gesagt habe, kommt jetzt mein zweiter Satz: Für das interreligiöse Lernen bringt der CRU keinen Fortschritt.
In manchen Schulformen, etwa in den Berufsbildenden Schulen oder an Gesamtschulen, findet Religionsunterricht in multireligiösen Klassen statt. Was heißt das für die Religionslehrkräfte?
Tatsächlich ist das inzwischen in vielen Schulen so; übrigens auch in vielen Grundschulen. Ich würde jetzt gerne ein Loblied auf den Religionsunterricht in der multireligiösen Klassengemeinschaft singen, denn es ist kein Geheimnis, dass die Meh-heit der Religionslehrkräfte am liebsten im Klassenverband unterrichten möchte. Und ganz ehrlich: Ich kann das gut verstehen! Hier haben evangelische Schüler*innen die einmalige Gelegenheit, real existierende katholische, muslimische, je-sidische oder konfessionslose Menschen kennenzulernen – und umgekehrt eben auch. Ich habe als Schulpastor selbst mehrfach erlebt, wie bereichernd es für alle Beteiligten ist, wenn in einem evangelischen Religionskurs auch katholische und muslimische Schüler*innen sind und ein echter Dialog darüber entsteht, wer was wie glaubt oder nicht glaubt.
Es gibt allerdings ein gewichtiges Argument gegen den Religionsunterricht im multireligiösen Klassenverband: die rechtlichen Rahmenbedingungen. Das Grundgesetz, entstanden kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, überträgt bis heute die inhaltliche Verantwortung für den Religionsunterricht den Religionsgemeinschaften. Dahinter steht der Gedanke, dass sich eine nationalsozialistische Verführung von Schüler*innen niemals wiederholen darf. Deshalb ist der Religionsunterricht bis heute konfessionell geprägt und entweder in christlicher, also evangelischer, katholischer oder orthodoxer Verantwortung, oder eben in jüdischer, muslimischer oder alevitischer Verantwortung. Doch die religiöse Situation in unserem Land hat sich seit der Nachkriegszeit stark verändert. Das zeigt sich eben an der multireligiösen Zusammensetzung unserer Klassen. Ich vermute deshalb, dass sich der konfessionelle Religionsunterricht im Laufe der Zeit immer weiter in Richtung Unterricht im multireligiösen Klassenverband entwickeln wird. Besonders die Berufsbildenden Schulen sind da ihrer Zeit voraus. Aber nochmal: Dafür gibt es derzeit keine rechtliche Grundlage! Im Augenblick klafft eine Lücke zwischen der rechtlichen Aktenlage und dem real existierenden Religionsunterricht im Klassenverband. Aus meiner Sicht ist der CRU ein Zwischenschritt auf dem Weg dorthin. Noch schöner wärs, man könnte ihn überspringen, aber durch den CRU wird die verfassungsmäßige Rechtsgrundlage des Religionsunterrichts gesichert. Und das ist keine Kleinigkeit.
Wie können sich Lehrkräfte auf eine multireligiöse Schüler*innenschaft vorbereiten?
Unsere Schulklassen spiegeln unsere Gesellschaft wider: Und die ist multireligiös. Die beste Vorbereitung ist meiner Meinung nach, sich im Dialog mit Andersglaubenden den eigenen religiösen Standpunkt bewusstzumachen und darüber Auskunft geben zu können. In diesem Dialog lerne ich dann auch den Standpunkt der Andersglaubenden immer besser kennen. Wenn das geschieht, ist schon viel gewonnen.
Um der Multireligiosität in den Klassenzimmern noch besser gerecht zu werden, wird gerade eine neue Weiterbildung für Lehrkräfte konzipiert, die in den Klassen 1–10 unterrichten. Sie richtet sich an evangelische, katholische und mulimische Religionslehrer*innen, die berufsbegleitend dafür qualifiziert werden sollen, Fortbildungen für andere Lehrkräfte zum interreligiösen Dialog durchzuführen. Ich bin sehr gespannt darauf!
Die Fragen stellte Michaela Veit-Engelmann, im RPI Loccum zuständig für Öffentlichkeitsarbeit.