„Mein Metier war immer eine Katastrophenwissenschaft“, sagt Dietmar J. Wetzel. Damit dürfte der Soziologe aus Bern aktuell Hochkonjunktur haben. Auch in Loccum war er als Kriseninterpret gefragt, als er vor rund 50 Vertreter*innen der Regionalen Landesämter für Schule und Bildung über „Transformative Lebenswelt(en)“ sprach. Wetzel war einer der Referenten bei der Fachtagung „Schule in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen – was kann und was soll sie leisten?“, zu der das Religionspädagogische Institut Loccum (RPI) eingeladen hatte.
Kann die Schule ein Schutzraum im multiplen Krisenmodus sein? Diesen Wunsch formulierte eine Tagungsteilnehmerin. Nur bedingt, entgegnete der in Hamburg und Bern lehrende Professor: „Krisen lassen sich nicht aus der Schule heraushalten, aber Schule kann auch nicht alles reparieren, was in der Gesellschaft schiefläuft.“ Nicht nur die Themen Krieg und Klimawandel schwappen in die Schule, „auch die Digitalisierung treibt uns manchmal in den Wahnsinn“. Durch die immer schneller werdenden Reize der Mediengesellschaft werde das Vermögen zur Konzentration schwächer – ein Problem nicht nur für Schüler*innen. Die Künstliche Intelligenz (KI) sei ein Thema, „das uns gerade überrollt“. Aufhalten könne man den Fortschritt nicht, es gebe durchaus auch sinnvolle Einsatzmöglichkeiten etwa für ChatGPT, sagte Wetzel. Aber ein mündiger Gebrauch der Technik sei nötig, dafür brauche es weiterhin humanitäre Bildung.
Als Schüler von Hartmut Rosa ist Wetzel mit der Resonanztheorie vertraut. Im Idealfall gebe es ein funktionierendes Dreieck aus Lehrperson, Schüler*in und der Sache, also dem Unterrichtsstoff. Die Lehrperson kann für die Sache begeistern und hat einen guten Draht zur Klasse. Die Schüler*innen sind an der Sache interessiert und fühlen sich wertgeschätzt. Und der Stoff fasziniert Schüler*innen und Lehrpersonen gleichermaßen und steckt voller Möglichkeiten und Herausforderungen. Wenn dann noch das Ambiente in der Schule und im Klassenraum stimmen, steht einer positiven Resonanzerfahrung nichts mehr im Wege. „Warum reden wir gerade so viel von Resonanz?“, nahm Wetzel einen möglichen Einwand voraus. „Weil wir so wenig Resonanz haben.“ Leider funktioniere das Dreieck nicht immer, sei vielleicht sogar eher die Ausnahme. Das ist das größte Problem für die aufkeimende Pädagogik der Resonanz: Die Unverfügbarkeit gehört zu ihrer DNA. Man kann Resonanzerfahrungen begünstigen, auf Knopfdruck erzeugen kann man sie nicht.
Dabei wäre das aus Wetzels Sicht nötiger denn je. Denn der Drang, etwas Besonderes sein zu wollen und sich als erfolgreich zu inszenieren, befeuert durch die sozialen Medien und begünstigt durch immer individuellere Angebote der Konsumwelt, führe dazu, dass die Orientierung am Gemeinwohl verloren zu gehen droht.
Eine weniger pessimistische Sicht auf die Dinge vertrat der Erziehungswissenschaftler und Bildungsforscher Michael Schratz. Als langjähriger Sprecher der Jury des Deutschen Schulpreises hat der Innsbrucker Professor viel Gutes gesehen. „Die Gegenwart ist eine Inkubationsphase für Neues“, postulierte er. „Wir erreichen die alte Zufriedenheit nicht mehr und müssen versuchen, Neues zu organisieren.“ Der Schule falle die Aufgabe zu, zwischen Reproduktion und Transformation zum Wohlbefinden beizutragen. Dies sei für viele Schüler*innen in der Corona-Pandemie eine Frage der Überlebensfähigkeit geworden.
Krisen seien Problemverstärker und störten zunächst einmal den gewohnten Ablauf, sie könnten aber auch einen Prozess des Umdenkens einleiten. Der Wissenschaftler plädierte dafür, statt einer „Arbeit im System“ mit immer neuen Optimierungsversuchen die „Arbeit am System“ zu wagen. Schulen könnten so zu Orten des Experimentierens und Erfindens mutieren und damit zu Zukunftswerkstätten des neuen Lehrens und Lernens werden. Viele Schulleitungen hätten die pandemiebedingten Zwänge und Einschränkungen genutzt, um ihrer Schule einen neuen Sinn und damit eine neue Perspektive zu geben.
Wichtig sei dabei eine Kompetenz, die Schratz „Positive Leadership“ nennt. Er sieht Lehrer*innen als Führungskräfte, die mit Kreativität, Mut zu Neuem, Professionalität und Gelassenheit Schüler*innen inspirieren und die Schule der Zukunft gestalten können. „Das ist mehr als Denken, es braucht ein Spüren, ein Führen mit Präsenz und Empathie, das man üben muss“, unterstrich der Wissenschaftler. Dann aber könne man bei Schüler*innen die Erfahrung der Selbstwirksamkeit erzeugen – sie werden in die Lage versetzt, schwierige Aufgaben oder Herausforderungen aus eigener Kraft zu bewältigen. Was genauso gut für Schuldezernent*innen gelten kann: „Sie schreiben als Steuerungsmenschen des Schulsystems Geschichte“, ermutigte Schratz sein Publikum.
Eine „Extraportion Hoffnung“ hatte auch Kerstin Gäfgen-Track mitgebracht. Die Beauftragte der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen und Leiterin der Bildungsabteilung der Landeskirche Hannovers versteht Hoffnung als eine Lebenshaltung. „Wir lernen gerade, mit weniger Menschen und weniger Ressourcen mehr Schule zu machen.“ Auch Dezernent*innen erlebten sich immer wieder vor allem als Krisenmanager*innen. „Doch es kommt darauf an, ob das, was wir machen, sinnvoll ist“, so Gäfgen-Track, „für die Zukunft der Schüler*innen ebenso wie für unsere eigene.“ So könnten Schulen „Inseln des Gelingens“ sein.
Text und Fotos: Lothar Veit im Auftrag des RPI Loccum